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Wolfgang-Andreas Schultz

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Abendländisches Lied

Fantasie und Fuge für Englischhorn und großes Orchester nach dem Gedicht von Georg Trakl (1988-89)

Die Komposition "Abendländisches Lied" zeichnet die Idee des Gedichts von Georg Trakl nach, ohne allerdings dem Text in jeder Einzelheit zu folgen. Dabei knüpft das Hauptstück, die Fuge, an den von Bach entwickelten Typ der "Konzertfuge" an, eine Verbindung von fugiertem Ritornell und konzertanten Zwischensätzen. Die Idee des Gedichts ist die Beschwörung von drei Epochen des Abendlandes, die in eine Untergangs- und eine Auferstehungsvision mündet.

Die einleitende Fantasie bereitet den Hörer auf die Themen und Charaktere der folgenden Fuge vor. Diese stellt zuerst das eigentliche Fugenthema und seine Kontrapunkte im Orchester vor, dann werden in den Soloepisoden des Englischhorns drei Themen vorgestellt, die einzelnen Epochen des Abendlandes zugeordnet sind:

Auf die Vorstellung eines jeden Themas folgt eine Entwicklungs-Episode, in der das jeweils neue Thema mit den vorausgehenden kombiniert wird. Die letzte dieser Entwicklungs-Episoden vereinigt alle Themen und mündet in die Untergangsvision, die in einem zwölftönigen Akkord als Symbol für Untergang und Ende ihren Höhepunkt findet. Als Chiffre für die Auferstehungsvision erscheint die Melodie eines altfranzösischen Liebesliedes aus der Zeit um 1190, wie aus einer anderen Welt herüberklingend.

Georg Trakl: Abendländisches Lied

O der Seele nächtlicher Flügelschlag:
Hirten gingen wir einst an dämmernden Wäldern hin
Und es folgte das rote Wild, die grüne Blume und der lallende Quell
Demutsvoll. O, der uralte Ton des Heimchens,
Blut blühend am Opferstein
Und der Schrei des einsamen Vogels über der grünen Stille des Teichs.

O, ihr Kreuzzüge und glühenden Martern
Des Fleisches, Fallen purpurner Früchte
Im Abendgarten, wo vor Zeiten die frommen Jünger gegangen,
Kriegsleute nun, erwachend aus Wunden und Sternenträumen.
O, das sanfte Zyanenbündel der Nacht.

O, ihr Zeiten der Stille und goldener Herbste,
Da wir friedliche Mönche die purpurne Traube gekeltert;
Und rings erglänzten Hügel und Wald.
O, ihr Jagden und Schlösser; Ruh des Abends,
Da in seiner Kammer der Mensch Gerechtes sann,
In stummem Gebet um Gottes lebendiges Haupt rang.

O, die bittere Stunde des Untergangs,
Da wir ein steinernes Antlitz in schwarzen Wassern beschaun.
Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden:
E i n Geschlecht. Weihrauch strömt von rosigen Kissen
Und der süße Gesang der Auferstandenen.

(aus: „Sebastian im Traum“)