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Wolfgang-Andreas Schultz

Archaische Landschaft mit heilender Trauer

Einführungstext

Vor vielen Jahren hat eine befreundete Familie ein Kind kurz nach der Geburt verloren. Die verwaiste Mutter hat, um mit dem Verlust des Kindes fertig zu werden, ein Trauerseminar besucht. Der Psychologe Jorgos Canacakis hat solche Seminare ins Leben gerufen und in seinem Buch "Ich sehe deine Tränen" beschrieben. Es handelt von der Verarbeitung von Trauer, von Möglichkeiten, Trauer auszudrücken, und vom Unterschied in der Bewältigung von Verlusten in unserer modernen Gesellschaft und in archaischen Kulturen, wie Canacakis sie in entlegenen Tälern Griechenlands gefunden hat. Er lernte dort das Ritual der "Myroloja" (Trauer- oder Klagegesänge) kennen und beschrieb es in seinem Buch.

Die Komposition "Archaische Landschaft mit heilender Trauer" ist von diesem Ritual angeregt und hat zwei Ebenen:

Zunächst das archaische Ritual, vertreten durch einen lang gehaltenen Ton, einen Bordunton, wie er in vielen alten Musikkulturen vorkommt (in der armenischen Musik nennt man ihn den "unendlichen Ton"), und der durch ganz enge Nachbartöne (Vierteltöne) und Farbänderungen belebt wird; und durch eine Melodie, die grundtonbezogen ist ("modal", wie die Musiker sagen) und ebenfalls Vierteltöne benutzt. Diese Melodie wird von einer Bratsche gespielt, aber in einer besonderen Tongebung ("am Steg"), die an ein altes armenische Streichinstrument, die Kemantscha erinnert.

Die andere Ebene, der Schmerz und die Trauer des einzelnen Menschen, wird durch ein Streichquartett vertreten, das sehr ausdrucksvoll spielt in einer "modernen" schmerzlich-dissonanten Tonsprache. Das Streichquartett meldet sich zunächst in drei Episoden zu Wort, die den Klagegesang der Bratsche unterbrechen, zunächst mit Motiven des Weinens, dann mit zwei schmerzlich-ausdrucksvollen Themen, die das musikalische Material für das Stück vorstellen.

In dem Stück laufen jetzt zwei Entwicklungen parallel und durchdringen sich: die Entfaltung der modalen Melodie und die Entwicklung des thematischen Materials des Streichquartetts, fast so, als würden sich zwei Musiken überlagern und sich immer mehr miteinander verbinden. Schließlich wird der Schmerz heftiger, um sich am Ende in einem harmonischen Klang zu lösen – der Verlust des geliebten Menschen kann angenommen werden.