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Wolfgang-Andreas Schultz

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Indras Netz - die Lehrzeit des jungen Sudhana

Ein Zyklus für Klavier – frei nach dem Kegon-Sutra

Der indische Gott Indra "hat in seinem himmlischen Palast ein mit edlen Perlen besetztes Netz, die einander reflektieren, so daß in einer Perle alle übrigen aufscheinen. Umgekehrt spiegelt sich auch die eine Perle in allen übrigen, so daß sich eine ins Unendliche gehende Reflektion einer jeden Perle in allen übrigen, damit aber auch wieder in sich selbst ergibt." So schildert der Sinologe Michael Friedrich das Bild von Indras Netz, auf das in einem der wichtigsten buddhistischen Texte, dem Kegon-Sutra, immer wieder angespielt wird.

Indras Netz sollte aber nicht als gleichsam statisches Abbild der höchsten Erkenntnis verstanden werden, sondern als ein Prozess der sich immer erweiternden Spiegelungen, der von einem bestimmt Standpunkt in Raum und Zeit seinen Ausgang nimmt; damit verläuft jeder Prozess individuell, denn jede Perle hat ihre eigene Identität. Im Kegon-Sutra verbindet sich dieses Bild mit dem Entwicklungs-Gedanken in der Erzählung von der Lehrzeit des Knaben Sudhana im 34. Buch – für die Musik als Zeitkunst ein Ansatz, das Bild musikalisch umzusetzen.

Im Sutra begegnet Sudhana 53 Lehrern. "Es handelt sich dabei um Persönlichkeiten ganz unterschiedlichen Standes und religiöser Herkunft; Vertreter außenstehender (nicht-buddhistischer) Lehren sind dort genauso zu finden wie Götter- oder Dämonengestalten, neben verschiedenen Bodhisattvas (...) auch soziale Randfiguren wie etwa eine Kurtisane. Besonders zu bemerken ist der relativ große Anteil an Frauen." (Jörg B. Quenzer und Sibylle Girmont) Dämonen werden nicht als „das Böse“ ausgegrenzt, sondern im Buddhismus geht es darum, "negative Kräfte nicht durch Gegenwehr oder Vergeltung vernichten zu wollen, sondern durch aufnehmende Verwandlung zu überwinden." (Quenzer/Girmont) So findet man Dämonen oft als dienende Wesen, und so können sie auch Lehrmeister sein.

Innerhalb einer längeren Einleitung rituellen Charakters wird das Thema des Sudhana vorgestellt, in welchem in Melodie oder in Nebenstimmen schon die Motive aller seiner künftigen Lehrer anklingen.

Dann macht Sudhana sich auf die Wanderschaft und begegnet insgesamt neun Lehrern und Lehrerinnen. Nach jeder Begegnung nimmt er die Wanderschaft wieder auf und verarbeitet das Erfahrene und Gelernte. Dabei bleiben alle bisher aufgetretenen Gestalten präsent, so daß sich nach und nach das Netz der Spiegelungen aufbaut und schließlich alle Lehrer in einer Art Gleichzeitigkeit gegenwärtig sind: