Labyrinth für Philipp Otto Runge – Fantasiestück für Orchester
Der Maler und Kunsttheoretiker Philipp Otto Runge (1777 – 1810) ist interessant durch seine Verbindung von alchemistischer Tradition aus Renaissance und Barock mit Klassizität und früher Romantik bis hin zur Kenntnis indischer Philosophie.
In vielen seiner Gemälde findet man eine Art Dialog zwischen den Figuren und Ornamenten des Rahmens und dem eigentlichen Bild. Daraus entstand die Idee einer Umrahmung, ja Überlagerung von Fuge und Bilderzählungen, die – in zeitlicher Abfolge gebracht – den Charakter eines Labyrinths annehmen.
Am Anfang wird ein Thema aus zwei gegensätzlichen Hälften vorgestellt, die später zu Fugenthemen werden. Das erste Bild ist der „Große Morgen“, dessen Klänge sich schon bald mit der Fuge verbinden. Der „Abend“ klingt an – Runge hat ihn nur als Zeichnung hinterlassen.
In der „Lehrstunde der Nachtigall“, dem zweiten Bild, entwickelt sich über der Fuge mit einem zweiten Thema ein Dialog zwischen der großen und der kleinen Flöte. Angeregt wurde Runge dazu durch ein letztlich kunsttheoretisches Gedicht von Friedrich Gottlieb Klopstock. Im Verlauf gewinnt die Musik durch die sich entfaltende Harmonik an Tiefe und Ausdruck – darum geht es auch in dem Gedicht.
Das Bild „Die Flucht nach Ägypten“ stellt die beiden Eltern des Jesus-Kindes vor: Joseph im etwas altertümlichen Stil der Frührenaissance, Maria in romantischer Klanglichkeit. Die Musik erzählt von der Angst der Eltern vor der Verfolgung durch Herodes, von der Flucht und der rettenden Ankunft in Ägypten, verwoben mit Motiven der Fugenthemen. Hier nun erhält die Musik einen orientalischen Charakter. Ganz am Ende werden – gleichsam als Rahmen – die beiden Fugenthemen miteinander kombiniert.
So versucht das Werk in der Verbindung von Fuge und Bilderzählungen, mit Klängen, die an die Welt der Renaissance, des Barock, der Romantik und des Orients gemahnen, den Kosmos von Runges Kunst und Philosophie zu spiegeln.
Das dem mittleren Teil zugrunde liegende Gedicht von Klopstock lautet:
Die Lehrstunde
Der Lenz ist, Aedi, gekommen;
Die Luft ist hell, der Himmel blau, die Blume duftet,
Mit lieblichem Wehen athmen die Weste.
Die Zeit des Gesangs ist, Aedi, gekommen.
„Ich mag nicht singen, die Zeisige haben
Das Ohr mir taub gezwitschert!
Viel lieber mag ich am Aste mich schwenken,
Und unten in dem krystallenen Bache mich sehn.“
Nicht singen? Denkst du, dass deine Mutter
nicht auch zürnen könne?
Lernen mußt du, der Lenz ist da!
Viel sind der Zaubereyen der Kunst;
Und wenig der Tage des Lenzes.
Weg von dem schwankenden Aste,
Und höre, was einst vom Zauber der Kunst mir sang
Die Königin der Nachtigallen, Orphea.
Hör‘, ich beb‘ es zu singen,
Aber hör‘, und sing es mir nach,
Also sang Orphea:
Flöten musst du, bald mit immer stärkerem Laute,
bald mit leiserem, bis sich verlieren die Töne;
Schmettern dann, daß es die Wipfel des Waldes durchrauscht!
Flöten, flöten, bis sich bey den Rosenknospen
Verlieren die Töne.
„Ach, ich sing‘ es nicht nach, wie kann ich!
Zürne nicht, Mutter, ich sing‘ es nicht nach.
Aber sang sie nichts mehr
Die Königin der Nachtigallen?
Nichts von dem, was die Wange bleich macht,
Glühen die Wang‘ und rinnen und strömen die Thräne macht?“
Noch mehr! Noch mehr!
Ach, daß du dieses mich fragtest,
Wie freut mich das, Aedi!
Sie sang, sie sang auch Herzensgesang!
Nun will ich das jüngste Bäumchen dir suchen,
Den Sproß dir biegen helfen,
Daß du dich näher sehen könntest im Silberbach.
Auch dieses ließ erschallen,
Die Liederkönigin, Orphea:
Der Jüngling stand, und flocht den Kranz,
Und ließ ihn weinend sinken!
Das Mädchen stand, vermocht‘ es über sich
Mit trocknem Blick den Jüngling anzusehen.
Da sang die Nachtigall ihr höheres,
ihr seelenerschütterndes Lied.
Da flog das Mädchen dem Jüngling hin!
Der Jüngling zu dem Mädchen hin!
Da weinten sie der Liebe Wonne!